Eine bewegte Geschichte hat der Marburger Wandteppich vom verlorenen Sohn. Über vier Meter groß und mehr als acht Meter breit ist er. Im Lauf der Jahrhunderte ist er mehrfach zerschnitten und wieder zusammengefügt worden.
Auf ihm abgebildet ist die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn
aus dem Lukas-Evangelium in zwei Bildleisten. Auf der Borte, die den
Teppich umrahmt, erkennt man aber auch Stationen aus dem Leben eines
Adligen. Zwischen Ranken und Blattwerk sieht man zum Beispiel einen
Säugling mit der Mutter, einen Knaben, der zur Schule geht und einen
gepanzerten Ritter.
Deshalb ist anzunehmen, dass der große Teppich wahrscheinlich von
einem wohlhabenden Adligen in Auftrag gegeben wurde. Mit solchen
Teppichen wurden die Wände verschönert, sie hielten außerdem die
Kälte draußen. Der große Teppich war wohl für kein normales
mittelalterliches Zimmer gedacht, sondern für einen ein Raum in
einer Burg oder einem Schloss. Der Teppich wurde auf einem sehr
großen Webstuhl in einem Stück angefertigt, wahrscheinlich in einer
Klostermanufaktur. Im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts gelangte
er in die Hände des Deutschen Ordens.
Er hing dann wahrscheinlich in der Elisabethkirche. Später wurde der Teppich allerdings auf dem Boden vor dem Hochaltar ausgelegt. Er wurde in der Mitte zerschnitten, weil die vor dem Altar fest installierten Leuchter es unmöglich machten, ihn in einem Stück auszubreiten.
1828 wurde er wieder zusammengefügt, denn die Leuchter waren
entfernt worden. Ein Sattler nähte ihn zusammen, allerdings falsch,
so dass die beiden Teile später wieder aufgetrennt werden mussten.
Auch der untere Rand des Teppichs wurde offenbar irgendwann im Laufe
der Jahrhunderte abgetrennt.
1919 trennten Diebe die beiden letzten Bildfenster ab, auf denen die Heimkehr des verlorenen Sohnes abgebildet war. Zweieinhalb Jahre später tauchte der abgetrennte Teil des Teppichs wieder auf, mit Hilfe eines Juristen und vermutlich gegen „Lösegeld“. 1923 fügte Hanna Ubbelohde, die Witwe des Künstlers Otto Ubbelohde, die Teile wieder zusammen. Dabei half ihr ihre Nicht Else Hettner. Die beiden hatten Wollfäden der gleichen Strukturanfertigen und nach mittelalterlichen Rezepten einfärben lassen. Am oberen Rand ist von dieser Restauration nichts zu sehen, denn da hatten die Diebe ihre Beute ohne Zerstörung der Kettfäden abgetrennt. An den linken Rändern waren sie weniger sorgfältig gewesen, so dass man die Spuren dieser letzten Restauration heute noch sieht.
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